Foto
Anny und Sibel Öztürk – unspeakable home
Foto: Claus Rottenbacher, Berlin
2011
Konsulmayan, Unspeakable, Unaussprechbar
unspeakable home ist eine Installation von Anny und Sibel Öztürk, für eine Ausstellungswand im Ambiente einer Privatwohnung in Berlin.1 Auf einer wandfüllenden schwarz/weiß Photokopie, einer photographischen Interieurdarstellung, ist neben einer Zeichnung und zwei Gemälden, ein Leuchtschriftzug angebracht. Dieser überschreibt die Abbildung mit den Worten des irischen Schriftstellers Samuel Beckett: „unspeakable home“.2 Vor der Wand stehen in Kunststofftöpfen Holzlattenkreuze, an denen an Kabeln, aus Folien ausgeschnittene Gebilde, charakteristische Blattformen einer bekannten Zimmerpflanze nachahmen. Es handelt sich um freie Nachschöpfungen der Monstera Deliciosa, die hier ganz in schwarz gehalten sind. Dieser Wandbereich wird ergänzt durch einen, auf einer Tür angebrachten Text und einige weitere Zeichnungen und ein Gemälde. Der Text handelt von Erinnerungen an das Haus der Großmutter in Istanbul, an die langen Schatten eines großen Sprossenfensters im Stil der europäischen Moderne der 20er/30er Jahre und an eine Zimmerpflanze, mit der sich eine Familienlegende verbindet. Die, das ganze Zimmer durchrankende, Monstera Deliciosa, der ganze Stolz des Großvaters, wurde von der zweijährigen Anny blattweise genüsslich zerpflückt. Dass der Großvater diesen Vandalismus lächelnd beobachtete ohne einzugreifen, galt der Familie als Beweis seiner großen Liebe zur Enkelin. Die Zeichnungen und Gemälde handeln vom großmütterlichen Haus und von der im Text beschriebenen Geschichte.
Das wandfüllende Photo zeigt ein Fenster, das jenem ähnelt, durch das man im Haus der Großmutter sah, und dies platziert, an der architektonisch richtigen Stelle. Auch hier sorgt Lichteinfall für die, in der Geschichte beschriebenen, langen Schatten und selbst eine Monstera steht an ihrem Platz. Im Raum gruppiert sich eine aus Sesseln, Armstühlen und Sofa bestehende Sitzgruppe um einen Tisch. Eine Stehlampe und ein Bild an der Wand komplettieren die Raumansicht. Im räumlichen Zusammenhang der Privatwohnung, die diese Installation beherbergt, erscheint das abgebildete Interieur als eine Komplettierung der vorgegebenen Zimmerfolge. Der reale Raum scheint sich im virtuellen des schwarz/weißen logisch fortzusetzen. Bei dem Interieur jedoch, dass hier als bildlicher Stellvertreter für das Wohnzimmer der Großmutter in Istanbul eintritt, handelt es sich um den so genannten „Wintergarten“ des „Berghofs“, Adolf Hitlers Refugium in Berchtesgaden!3
Einen Raum erinnert man nicht unbedingt seinen realen architektonischen Gegebenheiten gemäß, sondern aufgrund von Eindrücken und Gefühlswerten.4 Ebenso ist, um ein räumliches Erinnerungsbild aufzurufen, oder in der Darstellung eine Form zu geben, keine akkurate Nachbildung des historischen Originalraums nötig. Es reicht, als einen pointierten Übersetzungsakt eine Szene zu entwerfen, die „auf dem Hintergrund einer dunkelgewordenen und verwischten Vergangenheit ein einzigartig lebhaftes Bild“ heraufbeschwört.5 Entsprechend der kindlichen Erinnerung, in der bestimmte Gegenstände und Personen eine dominierende Rolle spielen reicht es, mit einzelnen Objekten, einigen prägnanten Aspekten das Erinnerungsbild eines Ortes, nach außen vermittelbar entstehen zu lassen. „Wie entsteht ein Ort – und sei es der der Heimat ….?“6
Im Fall der Berliner Installation ist es das ähnliche Fenster, an der gleichen Stelle des Raumes positioniert, der wieder erkannte Licht- und Schatteneinfall, die Präsenz einer Zimmerpflanze gleicher Gattung und für Anny und Sibel Öztürk und diejenigen in ihrer Familie, die mit jenem Raum im Haus der Großmutter vertraut sind – und nur für sie – ist der Erinnerungsort auf solche Weise mit diesem Bild präsent.
Für alle anderen Betrachter hört das Bild nicht auf Hitlers „Berghof“ abzubilden – mit all dem Bedrückenden was dieser Ort in seiner Gestaltung und seiner historischen Bedeutung vermittelt. Die Art und Weise, wie sich die Raumdarstellung in das Raumkontinuum der Wohnung eingliedert, bleibt Herausforderung und Zumutung. In der Überblendung eines kollektiven Erinnerungsortes mit einem Motiv individueller Erinnerungen, erschließen sich völlig neue Bedeutungsebenen. Darüber hinaus kann hier mit einer lustvoll provokanten Geste und einem großen Maß ironischer Distanznahme, von einem ‚Zuhause’ in zwei Kulturen gesprochen werden – in eben der Form, die mit Fug und Recht das Unaussprechliche für sich in Anspruch nimmt.
Die Möglichkeit in einer Gesellschaft verwurzelt zu sein, in der man sich je nach Anlass und Bedarf als dazugehörig, oder als Außenseiter sehen kann, ermöglicht eine Erzählung aus einer „Doppelperspektive“, eine Fokussierung mit einem „stereoskopischen Blick“.7 In dem Maß, in dem eine Positionierung innerhalb von zwei Kulturen dabei eine Gemeinschaftszugehörigkeit innerhalb der Mehrheitsgesellschaft in Frage zu stellen riskiert, entsteht das Bedürfnis nach „Identitätsgeschichten“, in denen „wir uns selbst erzählen, wo wir herkommen, wer wir heute sind und wohin wir gehen“.8 Anny und Sibel Öztürk erzählen solche Geschichten als Erinnerungsbilder, in denen der Türkei die Rolle eines familiären Sehnsuchtsortes zukommt, der als eine große Projektionsfläche ihrer Bildwelt, einer „imaginären Heimat“ dient.9 Die Kunst bietet den Künstlerinnen ein Spielfeld, auf dem sie sich Räume und Orte wieder herstellen können. Der „Ausschließlichkeit des Raumes“ zum Trotz wird der Unmöglichkeit zweimal in den gleichen Fluss zu steigen, dabei augenfällig eine kreative Finte geschlagen.10 Da es ohnehin nie der gleiche Ort ist, den man zurückkehrend betritt, Orte Räume und Städte vielmehr völlig unabhängig voneinander, oft an gleicher Stelle aufeinander folgen können, ist auch die freie Nachbildung eines Ortes ein durchaus taugliches Doppel.11
Anny und Sibel begeistern sich in diesem Zusammenhang besonders für die Idee des so genannten „Holodeck“ aus der amerikanischen TV Serie Star Trek. Dort ist das Deck als Ort ein Film im Film, der eine Schwelle behauptet, die einzelne Charaktere übertreten. Ihr eigenes Holodeck bespielen Anny und Sibel Öztürk mit ihrer Kunst. Ihre virtuellen Bildorte sind dabei offen und jedem zugänglich. Ihr größtes und wichtiges Holodeck ist der Projektions- und Erinnerungsort Türkei. – Dessen Schwelle jedoch betreten sie stets von Deutschland aus und bringen von dort bisweilen schier Unaussprechbares mit.
Rafael von Uslar
1 My Berlin Wall, Nur nach Voranmeldung. Zur Installation erschien eine Publikation: unspeakable home. Anny und Sibel Öztürk, hg. Rafael von Uslar, Darling Publications, Köln, 2012. Der vorliegende Text ist ein bearbeiteter Auszug aus meinem Essay: Holodeck Türkei, in: Her Yerde, Evinde At Home Wherever, hg. René Block, Istanbul, 2011, S. 8-23.
2 Samuel Beckett: Neither, Libretto für Morton Feldman, Neither, For chamber orchestra and soprano, 1977. Für Informationen zur Oper und dem Originaltext des Librettos siehe: http://www.themodernword.com.
3 Zur formalen Nähe der Fenster im Berghof und im Haus der Großmutter siehe: Rafael von Uslar: Der lange Schatten des Fensters der Nadiye Özdöl, in: Anny und Sibel Öztürk from inner to outer shadow , hg. Schrader Stiftung und Hessisches Landesmuseum Darmstadt, Darmstadt, 2010, S.9/10.
4 Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt, 1985. „… was man oft von einem Haus, in dem man gelebt hat, in Erinnerung behält, ist weniger die Aufteilung der Zimmer, wie man sie auf einem archtitektonischen Plan festhalten könnte, als nach Eindrücken…“ „ Ebenso gewinen die verschiedenen Zimmer eines Hauses, bestimmte Ecken, Möbel … irgendwie einen Gefühlswert ….“ S.142.
5 Maurice Halbwachs, Ebd. S. 211/212.
6 Diese Frage stellt Annelie Pohlen in ihrer Monografie zu den Künstlerinnen. Sie beantwortet sie mit einer beschreibenden Aufzählung von Werken der Beiden. Annelie Pohlen: Anny und Sibel Öztürk, Poetische Modelle für Identitäten in Bewegung, in: Kunstforum International Bd. 196, April-Mai 2009, S.256 – 267.
7 Salman Rushdie: Imaginary Homelands, in: Imaginary Homelands. Essays and Criticism 1981-1991, London, 2010, S. 19. Indian writers … „are capable of writing from a kind of double perspective: because they, we, are at one and the same time insiders and outsiders in this society. This stereoscopic vision is perhaps what we can offer in place of ‚whole sight’.“
8 Jeffrey Weeks,: Making Sexual History, Cambridge, 2000, S.182.
9 Salman Rushdie: Imaginary Homelands, a.a.O. S.10.
10 Georg Simmel: Soziologie des Raumes, in: Gesamtausgabe Band 7, hg. Otthein Rammstedt, Frankfurt, 1995, S. 134. „ Dazu gehört, was man die Ausschließlichkeit des Raumes nennen kann. Wie es nur einen einzigen allgemeinen Raum gibt, von dem alle einzelnen Räume Stücke sind, so hat jeder Raumteil eine Art von Einzigkeit, für die es kaum eine Analogie gibt.“
11 Italo Clavino beschreibt dieses Phänomen am Beispiel der Stadt „Maurilia“. „Man hüte sich aber, ihnen (den Bewohnern) zu sagen, dass manchmal verschiedene Städte auf demselben Boden und mit demselben Namen einander folgen, entstehen und vergehen, ohne sich gekannt zu haben, unfähig zu jedem Kontakt miteinander. (…).. so wie die alten Ansichtspostkarten nicht Maurilia darstellen, wie es einst war, sondern eine andere Stadt, die zufällig auch Maurilia hieß.“ , in: Italo Clavino: Die unsichtbaren Städte, München, 1985, S.37/38.
2 Kommentare zu „Anny und Sibel Öztürk – unspeakable home“