Dirk Schlichting – Hier entsteht für Sie

 

Der häusliche Brutalismus des Dirk Schlichting

In Berlin herrscht bekanntermaßen Wohnungsknappheit. Während sich im Bereich des sogenannten bezahlbaren Wohnraums in der Stadt sehr wenig zu ereignen scheint, geschieht umso mehr im Bereich des Unbezahlbaren. Nachverdichtung und luxuriöser Dachausbau sind hier die Projekte der Stunde. Dabei soll es sogar, für Berlin ansonsten gänzlich untypisch, Aufbauten mit architektonischen Ambitionen geben, denen die vorhandene Bausubstanz nicht Rahmen und Basis genug ist. So kommt es bisweilen zu der Notwenigkeit, Stützen durch das Haus und somit durch den anderweitig vermieteten Wohnraum zu ziehen um zu tragen, was sich auf dem Dach des Hauses ereignen soll. Solche, von den Mietern selten willkommen geheißenen nachträglichen Einbauten bei laufendem Wohnbetrieb mögen für Architekten und Bauleute eine Herausforderung darstellen, für die Mieter sind sie mit Sicherheit ein ganz besonderes Ereignis, das auch auf Jahre hin ein ganz neues Wohnerlebnis verspricht.

Die im Rahmen des Projektes Hier entsteht für Sie entstandene Betonsäule für MyBerlinWall gewinnt ihren Realismus aus diesem ortstypischen Phänomen, auch wenn ihr Anliegen ein gänzlich anderes ist. Bei Dirk Schlichtings Projekt für MyBerlinWall bleibt die Wand erstmals frei und ungenutzt. Schlichting verlagert seine Arbeit in das angrenzende Wohnzimmer und platziert eine stattliche Betonsäule in einem Raum, dem es an Gegenständen, Kunstwerken und Möbeln in keiner Weise mangelt. Hier findet sie just zwischen einem Sofa und einem, diesem gegenüber stehenden Sessel ihren Platz. Die Säule ist in grauer Sichtbetonoptik gestaltet. Eine hölzerne Verschalung strukturiert mit unsauberen Übergängen die Flächen, zur Decke hin ragen rostige Moniereisen aus dem Gebilde.

Bei näherem Hinsehen überzeugen einige wesentliche Details von der detailgenauen Abbildhaftigkeit der Säule. Die Oberfläche des Betons weist zahllose Haarrisse auf. Braune Verfärbungen lassen erste Rostschäden im Inneren der Konstruktion erkennen: Materialtypische Fehlerhaftigkeit steht hier überzeugend für die Echtheit des Gegenstandes ein. Bei näherem Hinsehen wird allerdings auch deutlich, dass in der Verschalungstechnik der Säule ein deutlicher Unterschied zu anderweitig vertrautem Sichtbeton zu erkennen ist. Die Binnenstruktur der hölzernen Verschalungselemente ist hier, nicht wie sonst, ein im Abdruckverfahren hergestelltes Porträt des jeweiligen, zum Einsatz gebrachten Holzstückes. Die Holzoptik ist verdankt sich vielmehr einer manuell hergestellten Zeichnung, die nur scheinbar und grob das zu erwartende Muster nachahmt. Trotz dieses Verfremdungssignals jedoch, ist das Auge willig die vermeintliche Beschaffenheit der Säule zu glauben und ihr auf dieser Grundlage großes Gewicht zuzuerkennen. Der Umstand, dass dieses wuchtige Gebilde auf dem Dielenboden zu ruhen scheint, ohne dabei erhebliche statische Probleme für Boden und darunter liegende Decke zu verursachen, markiert einen entscheidenden Übergang aus dem Bereich der Wahrnehmung in den Bereich des auf Mutmaßungen beruhenden Staunens.

Der Umstand, dass die diagonale Ausrichtung der Säule dem Grundriss des Raumes zu widersprechen scheint um die Anlage eines neuen architektonischen Grundrisses zu begründen, sorgt für weitere Irritationen. Es wird ein Raum vorstellbar, in dem die Säule mit Wänden korrespondiert, die sich nicht an den Stellen befinden, wo in der Wahrnehmung des derzeit vorhandenen Raumes die Wände anzutreffen sind. Dieser Gegen-Raum wird von der Säule aus denkbar und entzieht damit der vertrauten Umgebung den vormals alleinigen Anspruch auf räumliche Gültigkeit.

Auch wenn die Ausdehnung zwischen Dielenboden und Stuckdecke durchaus beeindruckend und wirkungsmächtig ist, so kommt einer Säule, welche die Decke weder erreicht noch durchdringt ganz offensichtlich keinerlei tragende Rolle zu. Dies wiederum legt die Frage nach der Funktion dieses Bauelements nahe. Ihr disruptiver Auftritt im Wohnumfeld, die gänzlich unpassende Platzierung innerhalb eines Möbelensembles das ursprünglich zur Kommunikation seiner Benutzer einladen sollte, die völlige Bezugslosigkeit zu der sie umgebenden Architektur, all dies lässt eine einzige, sich aus der Anschauung begründende Antwort zu: Es ist die Funktion dieser Säule im Weg zu stehen.

Darüber hinaus jedoch ermöglicht es die Säule dem Bewohner der Wohnung auch, im Jahrhundertwende Chic mit Stuckdecke, Kachelofen, Dielenboden, Flügeltüren leben zu können, ohne dabei auf den dem Sichtbetonelement innewohnenden Zauber des Brutalismus gänzlich verzichten zu müssen!

Dirk Schlichtings Hier entsteht für Sie ist ein Projekt mit Zukunft und Perspektive. Für den hier besprochenen Wohnraum sind bereits weitere Betonsäulen angedacht, die endlich einen alternativen Grundriss unmittelbar anschaulich und physisch eindrücklich erfahrbar werden lassen. Das bezieht ganz selbstverständlich auch die Nachbarwohnung mit ein.

Ein Musterkatalog, der es auch einem breiten Publikum ermöglichen soll, das eigene Interieur mit verschiedensten Betonsäulen aufzuwerten, ist bereits in Arbeit.

Rafael von Uslar

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Troy-Anthony Baylis – First Queer and The Early Sunsets

Troy-Anthony Baylis

First Queer and The Early Sunsets

troy_2Foto: Geo Reisinger, Berlin

2016

Troy-Anthony Baylis ist ein Nachkomme des Volks der Jawoyn und gehört zu den australischen Künstlern, die zugleich und mit großer Selbstverständlichkeit über ein traditionelles Formenvokabular indigener Kultur, wie auch über das Erbe westlicher Kunstgeschichte frei verfügen. Identität ist ein für Baylis wichtiges Thema, dem er sich in seinen Werken mit großem kulturellen Sachverstand und beeindruckendem Ironiebewusstsein widmet.

Seine gestrickten Sonnenuntergänge lehnen sich motivisch an Andy Warhols Sunsets von 1972 an. Für das Marquette Hotel in Minneapolis, Minnesota schuf Warhol eine Serie von 472 Siebdrucken, von denen jeder eine originäre Einzelvariante des Grundmotivs eines relativ abstrakt gestalteten Sonnenuntergangs darstellte.1 Baylis bezieht sich auf dieses Motiv ohne es eindeutig zu übernehmen und gestaltet ebenfalls eine beträchtliche Zahl von Farbvarianten.

Diese Arbeit ist voller Anspielungen. In ihrer Streifenordnung lassen die Sunsets über die Warholsche Vorlage hinaus, auch das Motiv der Flagge der Aborigines anklingen. Das Stricken wiederum nimmt Bezug auf traditionelle Knüpf- und Webtechniken, thematisiert aber zugleich auch Aspekte männlicher und weiblicher Identität.

Die strenge, horizontale Streifenordnung der sunsets stellt sich aber vor allem in eine wichtige Tradition der Landschaftsmalerei der Moderne. In seinem Spätwerk findet der Schweizer Maler Ferdinand Hodler zu immer radikaleren Darstellungen von Landschaft. Früh ist bei ihm der Genfer See eine in strengen Horizontalen sich gradlinig über die Bildfläche ausdehnende Größe. In zunehmendem Maße passen sich andere Landschaftselemente, so wie Berge und Wolken dieser Verflachung und Ausdehnung an. Sie erreichen damit eine ungekannte Weite. Bei Hodler ist das Format nicht mehr die Begrenzung des Bildmotivs, sondern der scheinbar zufällige und nach rechts und links beliebig verschiebbare Ausschnitt aus der Landschaftsansicht, die ein unendliches Kontinuum ausbildet. Am Ende dieses Abstraktionsprozesses, in dem in nach eigenen Worten „alles in Linien und Raum aufgeht“, bestehen die Bilder aus einer Staffelung von Farbzonen in streifenähnlicher Abfolge, die in einigen Streifen letzte Zitate von traditioneller Landschaftsdarstellung zeigen.2 So zum Beispiel in seinem Genfer See mit Mont-Blanc aus dem Jahr 1918.3 Die dominante Farbe ist Blau, ergänzt um ein Schwefelgelb und Weiß. Das Weiß tritt als zentraler Farbstreifen in dem Bildabschnitt auf, in dem der See bezeichnet wird. Aber als feiner Saum begegnet er auch zwischen den übrigen, meist blauen Farbzonen.

Fotos: Boris von Brauchitsch

In Summer Plain von 1967 einem Gemälde des US-Amerikanischen Malers Keneth Noland, ist diese Landschaftsauffassung fortgesetzt und weiter entwickelt.4 Nolands „hard-edge“ Malerei organisiert ein Streifenbild homogener Farbstreifen, die nunmehr mit klar bezeichneten weißen Zwischenstreifen von einander abgesetzt sind. In Farbigkeit und der Abfolge unterschiedlicher Stärke der Farbstreifen entsteht eine Dynamik, welche die Assoziation von Abbildlichkeit im Sinne einer von großer Ruhe und hellem Licht bestimmten Sommerlandschaft zulässt.

Troy-Anthony Baylis radikalisiert das Motiv der Warholschen Vorlage und minimalisiert es zu einer strengen Abfolge von Farbstreifen. Die Stofflichkeit des Stricks verleiht den Arbeiten dabei eine skulpturale Qualität, die durch plastische Hervorhebungen eines kraus rechts strickens eine besondere Betonung erfährt. Die Wollrechtecke, in ihrem Auftritt als alternative Leinwände halten sich dabei, von zahlreichen Nadeln unterstützt, sehr nachgiebig und in ihren äußeren Konturen eher unbestimmt an der Wand. Eine wichtige Rolle spielen die losen Endfäden, die sowohl in den gestrickten „Bildern“ als auch bei den Skulpturen eine wichtige Rolle spielen. Wie Luftwurzeln verlassen sie den Bildkörper und tatsten sich in die Tiefe des Wandraumes vor. Sie veranckern die Darstellungen in ihrer Umgebung und betonen ein weiteres mal unmissverständlich ihre Materialität.

Sonnenuntergänge sind eines der großen kollektiven Sehnsuchtsmotive schlechthin. Unerechenbar die Zahl ihrer Abbildungen in ihren unendlichen Wiederholungen. Menschen photographieren mit nicht enden wollender Leidenschaft Sonnenuntergänge auf Reisen und dokumentieren eben das als den besonderer Moment, was überall auf der Welt sich jeden Tag genau so ereignet. Troy-Anthony Baylis Sunsets bergen das erwärmende Motiv in poppigem Wollstrick und einem klugen, mit viel Humor entwickelten interkulturellem Dialog.

Rafael von Uslar

1 Andy Warhol: Sunset, 1972, 632 einzelmotivischen Siebdrucke auf Papier, Factory Additions, New York, siehe: Frayda Feldmann und Jörg Schellmann: Andy Warhol Prints, München, New York, 1985, S. 49. Troy-Anthony Baylis hat noch einige Sonnenuntergänge zu stricken um mit seiner Vorlage anzahlmäßig aufzuschließen.

2 Ferdinand Hodler: Sehen Sie, wie da drüben alles in Linien und Raum aufgeht? Zitiert nach: Freundschaft und Kunstsinn, Solothurn, 1996, ohne Seitennummerierung.

3 Ferdinand Hodler: Genfersee mit Mont-Blanc, 1918, Privatsammlung, Schweiz.

4 Keneth Noland: Summer Plain, Gemälde, 1967, www.kenethnoland.com, works 1960-1970.


 

Introducing the Pink Sunsets of Troy-Anthony Baylis

troy_1Foto: Geo Reisinger, Berlin

Landscape painting has been a successful strategy for the global positioning of second settlement Australian visual artists by grafting the national styles of their European ancestors. This practice has become the default setting for Australian art and culture.

Australia’s Indigenous artists used acrylic paint and canvas in the 1930s to interpret the landscape. Since the 1970s, the art produced by these first generation Indigenous artists using post-modern materials is now having a much greater effect on the international stage.

Troy-Anthony Baylis is a descendant of the Jawoyn people, whose country includes the area where the Northern Territory town of Katherine is located. He is creating radical new works that mash second and first settlement visual culture to produce a new form of Australiana.

^BEDFA694E3CFE69C7A3C794B2841ACD9A5D224790D234F97A4^pimgpsh_fullsize_distrFoto: Boris von Brauchitsch

Pink Sunsets are knitted works created by a range of pink (with an occasional strand of blue or yellow) acrylic wools. After the knitting process the objects are arranged into a position and petrified through a petrochemical process of fibreglass resin. The works visually reference the internationally recognisable landscape paintings on canvas by many of the Indigenous peoples of central and northern Australia – think of the feathered look of some of Emily Kame Nngwarreye’s landscapes and body paintings or the massive output of paintings by the Petyarre women artists.

The practice of knitting as a contemporary medium employed by Aboriginal artists has a longer and less valued history than painting on canvas. There is evidence too that Aboriginal women engaged in the art of knitting during World War I – prior to the high art practice of painting. Like with paint and canvas, Indigenous artists used knitting with wool as a method to speak traditional culture, while also producing domestic items such as blankets and jumpers.

The artist is presenting his contemporary dreaming through knitting – a dreaming which reclaims his Indigeneity without disrupting traditions told by artists whose identities have not been displaced by the effects of Stolen Generations and the racist strategy of Australian second settlers to strip the first of their culture and spirituality.

– Troy-Anthony Baylis, 2006 (unpublished)

Troy-Anthony Baylis – Tomorrow

 

Troy-Anthony BaylisTomorrow

Troy Tomorrow Claus OriginalFoto: Claus Rottenbacher, Berlin

 

Baylis verbindet die Traditionen seiner Vorfahren mit Elementen westlicher Kunst und Popkultur. Tomorrow ist eine 27 teilige Arbeit, die sich aus gestrickten Elementen zusammensetzt, die an absurd hohe Wollmützen erinnern und in deren graue Farbigkeit der gesamte Text des Liedes Tomorrow aus dem Musical Anny eingearbeitet ist.1 Im Kreis installiert ermöglichen die Elemente die vollständige Lektüre des Liedtextes.2

Troy-Anthony Baylis tomorrow  install jam factory adelaide

Ausgangspunkt für die Arbeit waren die mit Text versehenen Skimützen des amerikanischen Künstlers Cary S. Leibowitz, eine Coverversion von Tomorrow von Patti Smith und die Rolle, die das Lied in John Waters Serial Mom spielt.3 Die Form der Strickobjekte vermittelt dabei zwischen Leibowitz Skimützen und den Dilly Bags, konisch geformten Taschen, welche die Aborigines aus pflanzlichen Materialien weben und zum Transport von Lebensmitteln, Werkzeugen, Utensilien für Zauberei und auch Nachrichten benutzen.Troy Anthony Baylis Hang On

Seine Wollelemente wiederum stopft der Künstler in Plastiktüten und reist mit ihnen in die Welt um ihnen an den verschiedensten Orten einen Auftritt zu geben. In freier Natur positioniert er sie einzeln oder als Paare in temporären Installationen für die Dauer einer photographischen Aufnahme. Dabei ist ihm das besondere Verhältnis zum „Land“ wichtig, das die Kultur der Aborigines wesentlich bestimmt und sich von westlichen Vorstellungen ganz wesentlich unterscheidet. So initiiert er flüchtige freundliche Besetzungen, Erdungen in einem temporären kulturellen Tausch, bei dem er gerne mit der besonderen Bedeutung der jeweiligen Landschaft arbeitet.

Troy-Anthony Baylis Away

Für MyBerlinWall schuf Troy-Anthony Baylis eine Installation, in der die einzelnen Wollskulpturen die Positionen und Bewegtheit von Noten innerhalb einer musikalischen Partitur aufnehmen. Tapetenbahnen mit grau-silbern-farbenen Streifenmustern unterstreichen diesen Eindruck zusätzlich und gliedern die Wand in eine große musikalisch-graphische Komposition.

Rafael von Uslar

1 Annie: Charles Strouse (Musik), Martin Charnin (Liedtexte), Thomas Meehan (Buch), 1977.

2 In dieser Form zeigte Baylis die Arbeit in: Resonance, JamFactory Contemporary Craft & Design, Adelaide, 2009

3 Die Coverversion von Patti Smith ist veröffentlicht auf Land (1975-2002), 2002; John Waters: Serial Mom, 1994; Cary S. Leibowitz: Fran Drescher Fan Club, Multiple, 2007.


Anny und Sibel Öztürk – unspeakable home

Foto

Anny und Sibel Öztürk – unspeakable home

anny und sibel öztürk unspeakable home2Foto: Claus Rottenbacher, Berlin

2011

Konsulmayan, Unspeakable, Unaussprechbar

unspeakable home ist eine Installation von Anny und Sibel Öztürk, für eine Ausstellungswand im Ambiente einer Privatwohnung in Berlin.1 Auf einer wandfüllenden schwarz/weiß Photokopie, einer photographischen Interieurdarstellung, ist neben einer Zeichnung und zwei Gemälden, ein Leuchtschriftzug angebracht. Dieser überschreibt die Abbildung mit den Worten des irischen Schriftstellers Samuel Beckett: „unspeakable home“.2 Vor der Wand stehen in Kunststofftöpfen Holzlattenkreuze, an denen an Kabeln, aus Folien ausgeschnittene Gebilde, charakteristische Blattformen einer bekannten Zimmerpflanze nachahmen. Es handelt sich um freie Nachschöpfungen der Monstera Deliciosa, die hier ganz in schwarz gehalten sind. Dieser Wandbereich wird ergänzt durch einen, auf einer Tür angebrachten Text und einige weitere Zeichnungen und ein Gemälde. Der Text handelt von Erinnerungen an das Haus der Großmutter in Istanbul, an die langen Schatten eines großen Sprossenfensters im Stil der europäischen Moderne der 20er/30er Jahre und an eine Zimmerpflanze, mit der sich eine Familienlegende verbindet. Die, das ganze Zimmer durchrankende, Monstera Deliciosa, der ganze Stolz des Großvaters, wurde von der zweijährigen Anny blattweise genüsslich zerpflückt. Dass der Großvater diesen Vandalismus lächelnd beobachtete ohne einzugreifen, galt der Familie als Beweis seiner großen Liebe zur Enkelin. Die Zeichnungen und Gemälde handeln vom großmütterlichen Haus und von der im Text beschriebenen Geschichte.

Das wandfüllende Photo zeigt ein Fenster, das jenem ähnelt, durch das man im Haus der Großmutter sah, und dies platziert, an der architektonisch richtigen Stelle. Auch hier sorgt Lichteinfall für die, in der Geschichte beschriebenen, langen Schatten und selbst eine Monstera steht an ihrem Platz. Im Raum gruppiert sich eine aus Sesseln, Armstühlen und Sofa bestehende Sitzgruppe um einen Tisch. Eine Stehlampe und ein Bild an der Wand komplettieren die Raumansicht. Im räumlichen Zusammenhang der Privatwohnung, die diese Installation beherbergt, erscheint das abgebildete Interieur als eine Komplettierung der vorgegebenen Zimmerfolge. Der reale Raum scheint sich im virtuellen des schwarz/weißen logisch fortzusetzen. Bei dem Interieur jedoch, dass hier als bildlicher Stellvertreter für das Wohnzimmer der Großmutter in Istanbul eintritt, handelt es sich um den so genannten „Wintergarten“ des „Berghofs“, Adolf Hitlers Refugium in Berchtesgaden!3

Einen Raum erinnert man nicht unbedingt seinen realen architektonischen Gegebenheiten gemäß, sondern aufgrund von Eindrücken und Gefühlswerten.4 Ebenso ist, um ein räumliches Erinnerungsbild aufzurufen, oder in der Darstellung eine Form zu geben, keine akkurate Nachbildung des historischen Originalraums nötig. Es reicht, als einen pointierten Übersetzungsakt eine Szene zu entwerfen, die „auf dem Hintergrund einer dunkelgewordenen und verwischten Vergangenheit ein einzigartig lebhaftes Bild“ heraufbeschwört.5 Entsprechend der kindlichen Erinnerung, in der bestimmte Gegenstände und Personen eine dominierende Rolle spielen reicht es, mit einzelnen Objekten, einigen prägnanten Aspekten das Erinnerungsbild eines Ortes, nach außen vermittelbar entstehen zu lassen. „Wie entsteht ein Ort – und sei es der der Heimat ….?“6

Im Fall der Berliner Installation ist es das ähnliche Fenster, an der gleichen Stelle des Raumes positioniert, der wieder erkannte Licht- und Schatteneinfall, die Präsenz einer Zimmerpflanze gleicher Gattung und für Anny und Sibel Öztürk und diejenigen in ihrer Familie, die mit jenem Raum im Haus der Großmutter vertraut sind – und nur für sie – ist der Erinnerungsort auf solche Weise mit diesem Bild präsent.

Für alle anderen Betrachter hört das Bild nicht auf Hitlers „Berghof“ abzubilden – mit all dem Bedrückenden was dieser Ort in seiner Gestaltung und seiner historischen Bedeutung vermittelt. Die Art und Weise, wie sich die Raumdarstellung in das Raumkontinuum der Wohnung eingliedert, bleibt Herausforderung und Zumutung. In der Überblendung eines kollektiven Erinnerungsortes mit einem Motiv individueller Erinnerungen, erschließen sich völlig neue Bedeutungsebenen. Darüber hinaus kann hier mit einer lustvoll provokanten Geste und einem großen Maß ironischer Distanznahme, von einem ‚Zuhause’ in zwei Kulturen gesprochen werden – in eben der Form, die mit Fug und Recht das Unaussprechliche für sich in Anspruch nimmt.

Die Möglichkeit in einer Gesellschaft verwurzelt zu sein, in der man sich je nach Anlass und Bedarf als dazugehörig, oder als Außenseiter sehen kann, ermöglicht eine Erzählung aus einer „Doppelperspektive“, eine Fokussierung mit einem „stereoskopischen Blick“.7 In dem Maß, in dem eine Positionierung innerhalb von zwei Kulturen dabei eine Gemeinschaftszugehörigkeit innerhalb der Mehrheitsgesellschaft in Frage zu stellen riskiert, entsteht das Bedürfnis nach „Identitätsgeschichten“, in denen „wir uns selbst erzählen, wo wir herkommen, wer wir heute sind und wohin wir gehen“.8 Anny und Sibel Öztürk erzählen solche Geschichten als Erinnerungsbilder, in denen der Türkei die Rolle eines familiären Sehnsuchtsortes zukommt, der als eine große Projektionsfläche ihrer Bildwelt, einer „imaginären Heimat“ dient.9 Die Kunst bietet den Künstlerinnen ein Spielfeld, auf dem sie sich Räume und Orte wieder herstellen können. Der „Ausschließlichkeit des Raumes“ zum Trotz wird der Unmöglichkeit zweimal in den gleichen Fluss zu steigen, dabei augenfällig eine kreative Finte geschlagen.10 Da es ohnehin nie der gleiche Ort ist, den man zurückkehrend betritt, Orte Räume und Städte vielmehr völlig unabhängig voneinander, oft an gleicher Stelle aufeinander folgen können, ist auch die freie Nachbildung eines Ortes ein durchaus taugliches Doppel.11

Anny und Sibel begeistern sich in diesem Zusammenhang besonders für die Idee des so genannten „Holodeck“ aus der amerikanischen TV Serie Star Trek. Dort ist das Deck als Ort ein Film im Film, der eine Schwelle behauptet, die einzelne Charaktere übertreten. Ihr eigenes Holodeck bespielen Anny und Sibel Öztürk mit ihrer Kunst. Ihre virtuellen Bildorte sind dabei offen und jedem zugänglich. Ihr größtes und wichtiges Holodeck ist der Projektions- und Erinnerungsort Türkei. – Dessen Schwelle jedoch betreten sie stets von Deutschland aus und bringen von dort bisweilen schier Unaussprechbares mit.

Rafael von Uslar

1 My Berlin Wall, Nur nach Voranmeldung. Zur Installation erschien eine Publikation: unspeakable home. Anny und Sibel Öztürk, hg. Rafael von Uslar, Darling Publications, Köln, 2012. Der vorliegende Text ist ein bearbeiteter Auszug aus meinem Essay: Holodeck Türkei, in: Her Yerde, Evinde At Home Wherever, hg. René Block, Istanbul, 2011, S. 8-23.

2 Samuel Beckett: Neither, Libretto für Morton Feldman, Neither, For chamber orchestra and soprano, 1977. Für Informationen zur Oper und dem Originaltext des Librettos siehe: http://www.themodernword.com.

3 Zur formalen Nähe der Fenster im Berghof und im Haus der Großmutter siehe: Rafael von Uslar: Der lange Schatten des Fensters der Nadiye Özdöl, in: Anny und Sibel Öztürk from inner to outer shadow , hg. Schrader Stiftung und Hessisches Landesmuseum Darmstadt, Darmstadt, 2010, S.9/10.

4 Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt, 1985. „… was man oft von einem Haus, in dem man gelebt hat, in Erinnerung behält, ist weniger die Aufteilung der Zimmer, wie man sie auf einem archtitektonischen Plan festhalten könnte, als nach Eindrücken…“ „ Ebenso gewinen die verschiedenen Zimmer eines Hauses, bestimmte Ecken, Möbel … irgendwie einen Gefühlswert ….“ S.142.

5 Maurice Halbwachs, Ebd. S. 211/212.

6 Diese Frage stellt Annelie Pohlen in ihrer Monografie zu den Künstlerinnen. Sie beantwortet sie mit einer beschreibenden Aufzählung von Werken der Beiden. Annelie Pohlen: Anny und Sibel Öztürk, Poetische Modelle für Identitäten in Bewegung, in: Kunstforum International Bd. 196, April-Mai 2009, S.256 – 267.

7 Salman Rushdie: Imaginary Homelands, in: Imaginary Homelands. Essays and Criticism 1981-1991, London, 2010, S. 19. Indian writers … „are capable of writing from a kind of double perspective: because they, we, are at one and the same time insiders and outsiders in this society. This stereoscopic vision is perhaps what we can offer in place of ‚whole sight’.“

8 Jeffrey Weeks,: Making Sexual History, Cambridge, 2000, S.182.

9 Salman Rushdie: Imaginary Homelands, a.a.O. S.10.

10 Georg Simmel: Soziologie des Raumes, in: Gesamtausgabe Band 7, hg. Otthein Rammstedt, Frankfurt, 1995, S. 134. „ Dazu gehört, was man die Ausschließlichkeit des Raumes nennen kann. Wie es nur einen einzigen allgemeinen Raum gibt, von dem alle einzelnen Räume Stücke sind, so hat jeder Raumteil eine Art von Einzigkeit, für die es kaum eine Analogie gibt.“

11 Italo Clavino beschreibt dieses Phänomen am Beispiel der Stadt „Maurilia“. „Man hüte sich aber, ihnen (den Bewohnern) zu sagen, dass manchmal verschiedene Städte auf demselben Boden und mit demselben Namen einander folgen, entstehen und vergehen, ohne sich gekannt zu haben, unfähig zu jedem Kontakt miteinander. (…).. so wie die alten Ansichtspostkarten nicht Maurilia darstellen, wie es einst war, sondern eine andere Stadt, die zufällig auch Maurilia hieß.“ , in: Italo Clavino: Die unsichtbaren Städte, München, 1985, S.37/38.

Cary S. Leibowitz – I Luv The Baroque

Cary S. Leibowitz – I Luv The Baroque

UslarKarteCSLfinal-1Foto: Claus Rottenbacher, Berlin

2009

MyBerlinWall wurde 2009 mit einer Präsentation von Arbeiten des amerikanischen Künstlers Cary S. Leibowitz eröffnet. Gezeigt wurde eine Installation aus Gemälden und Multiples aus den Jahren 1989 – 2009. Die Hängung orientierte sich dabei an Strategien, die der Künstler selbst für seine Arbeiten in anderen Zusammenhängen gewählt hat.

Leibowitz, der auch den Künstlernamen „Candyass“ führt, arbeitet mit Malerei und Installationen und produziert eine Vielzahl von Multiples. Seine Arbeiten basieren fast immer auf Textbildern. In seinen Gemälden werden diese Texte in handschriftlicher Form mit kräftigen Farben auf einfarbig bemalte Holztafeln aufgetragen. Die Texte können die Form kleiner literarischer Erzählungen annehmen, oft kommen sie aber auch schon mit wenigen Worten aus. Dabei wiederholt sich Cary sehr gern und so gibt es oft eine Vielzahl von Bildern und Objekten mit gleichem Text, die dabei doch alle auch wieder sehr eigen sind.

Die Inhalte seiner Bilder befassen sich mit Identitäten, jüdischer, schwuler, amerikanischer Identität zum Beispiel. Sie zeigen ein Herz für Kitsch, für Verlierer aller Art und solche die mit Gewichtsproblemen hardern im Besonderen! In seinem Werk treffen sich Hochkultur, Populäres und atemberaubende Geschmacklosigkeiten und gehen die erstaunlichsten Verbindungen ein.

Seine Erzählweise erscheint dabei stets sehr einfach. Die Botschaften scheinen sehr direkt und plakativ vermittelt zu werden. Und doch, bei näherem, vor allem aber bei längerem, sich bewusst einlassendem Hinsehen, wird man feststellen, das was einfach erscheint komplex und klug angelegt ist. Cary verfügt über hervorragende kunsthistorische Kenntnisse und auch dies wird für das geübte Augen in seinen Bildern deutlich. Das allerwichtigste aber, das was die Welt von Candyass im Kern zusammenhält ist Carys Humor und sein Witz. Humor und ein hochentwickeltes Ironiebewußtsein prägen alle Aspekte seiner Arbeit und so natürlich auch die Inhalte der dort erscheinenden Textbotschaften.

In seinen zahlreichen Multiples verbinden sich die Texte mit dem eigenen Charakter der meist vorproduzierten Gegenstände, wie sich das am Beispiel unserer Serviette und ihrem Text gut zeigen lässt. Die Multiples erscheinen oft in großen Auflagen und sind so für Jedermann erschwinglich. Sie sind wichtige Botschafter dieser Kunst in der Welt da draußen.

In oft ausufernden Installationen schließlich kombiniert Leibowitz Gemälde, Objekte, Zeichnungen und Collagen stets mit einer großen Stückzahl dieser Multiples zu leichter Überfüllung neigenden bunten Räumen, die das Auge ebenso in Bewegung halten, wie den Verstand und die Aufwärtsbewegungen der eigenen Mundwinkel.

Rafael von Uslar